Dieses Material muss wirklich gefühlt werden
Die Nähmaschine kann zunächst einschüchternd wirken, aber wenn Sie sich etwas Zeit nehmen, um die Anleitung zu lesen, lernen Sie schnell den Zweck jedes Knopfes und jeder Taste. Es ist fast so, als ob uns die Maschine mit einer Bedienungsanleitung ausgehändigt wird. Aber was ist mit den Materialien, mit denen wir nähen? Anders als bei der Maschine gibt es keine Anleitung, die uns anleitet. Wir verwenden beim Nähen jedes Mal Stoffe und Strickwaren, aber verstehen wir wirklich ihr volles Potenzial? Was sollten wir wissen, um alle Möglichkeiten, die sie bieten, voll auszuschöpfen?

Haben Sie schon einmal von Kirigami gehört? Das ist eine Variante des Origami, bei der Papier ausgeschnitten wird, um Formen zu erzeugen. Als ich anfing, mich mit der Herstellung von Kleidung zu beschäftigen, dachte ich, es wäre wie das Falten von Papier – man schneidet flache Formen aus und wenn man sie zusammenfügt, bilden sie ein dreidimensionales Stück.
In mancher Hinsicht hatte ich recht. In anderer Hinsicht jedoch wirklich nicht.
Im Gegensatz zu Papier ist Stoff lebendig und bewegt. Ich habe bereits erklärt, wie die Struktur von Materialien – wie sich Fäden miteinander verflechten – in Kombination mit ihrem Gewicht und Fasertyp eine einzigartige Kombination bildet, die Stoffen ihre besonderen Eigenschaften verleiht.
Stoff dehnt sich, schrumpft und reißt sogar. Beim Nähen geht es nicht darum, die Längen perfekt aufeinander abzustimmen, wie es bei Papier der Fall wäre. Während es unzählige Dinge gibt, die man mit Papier nicht machen kann, bietet Stoff endlose Möglichkeiten. Er hat einen natürlichen Fluss und eine Anmut, die Papier fehlt. Aber um Stoff wirklich zu verstehen, müssen wir seine Dicke, Dehnbarkeit und sein Gewicht berücksichtigen – Eigenschaften, die auf Papier nicht zutreffen und nicht auf die gleiche Weise berechnet werden können.
Nähen ist eine kontinuierliche Reise der Demut, bei der man erkennt, wie viel es noch zu lernen gibt. Jedes Mal, wenn ich eine neue Technik zum Arbeiten mit Stoff entdecke, die sich jeglicher Logik oder Mathematik entzieht, bin ich voller Ehrfurcht. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich gelernt, dass die Art und Weise, wie Sie Ihre Hose bügeln, direkten Einfluss darauf haben kann, wie gut sie sitzt. Es gibt endlos viele kleine Wissensperlen wie diese. Wussten Sie zum Beispiel, dass ein schräg genähter Ärmel viel bequemer ist als einer, der längs zur Maserung genäht ist? Oder dass Sie die perfekten Kragenecken nur mit Ihren Fingern erzeugen können?

Natürlich kennen wir alle auch die Kehrseite – wenn sich ein Kleid ausdehnt, weil es auf einem schlecht sitzenden Bügel hängt, oder wenn sich nach dem Waschen das Futter eines Rocks löst, weil es weniger eingelaufen ist als der Außenstoff. Diese Probleme entstehen oft, wenn das Verhalten von Textilien beim Design- oder Herstellungsprozess nicht richtig berücksichtigt wird.
Leider ist selbst die Massenproduktion nicht vor diesen Fehlern gefeit. Für uns Hobbynäherinnen ist es eine ständige Herausforderung, das nötige Wissen zu erwerben, um diese Feinheiten zu beherrschen und sie effektiv anzuwenden.
Das Verständnis von Stoffen kann man nicht wirklich online lernen. Ich bekomme oft Nachrichten von Kunden, die etwas genäht haben, auf das sie stolz sind, aber der Stoff verhält sich einfach nicht so, wie sie es erwartet haben. Ich kann das nachvollziehen – zu Beginn meiner Nähkarriere habe ich oft den Fehler gemacht, Stoffe ausschließlich aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Struktur auszuwählen, ohne ihren Verwendungszweck zu berücksichtigen. Diese Fehler sind mit der Zeit seltener geworden, aber sie passieren immer noch.
Stoffe verstehen zu lernen ist eine lebenslange Reise .
Deshalb geht es in den heutigen Ratschlägen weniger um konkrete Tipps, sondern vielmehr darum, ein Gespür dafür zu entwickeln, wie sich ein Material verhält. Es geht darum, das Verhalten des Stoffes vorauszusehen.

Stellen Sie sich vor dem Nähen Fragen wie:
- Wird das Kleidungsstück zu leicht oder zu schwer sein?
- Wird der Stoff zu dick, wenn die Lagen zusammengefügt werden?
- Muss der Stoff etwas dehnbar sein oder kann es auch ein steiferer Stoff sein?
- Wird es leicht knittern?
Die Antworten auf diese Fragen kommen mit der Erfahrung, aber beginnen Sie damit, zu überlegen, wie sich der Stoff anfühlt, wie er sich bewegt und wie er reagiert.
Hier ist mein Wunsch für alle Näherinnen: Gehen wir behutsam mit unseren Stoffen um. Dehnen wir sie, aber übertreiben wir es nicht. Stecken, bügeln und formen wir sie mit Sorgfalt. Und nehmen wir uns schon vor dem Kauf die Zeit, zu spüren, wie sich der Stoff bewegt und wie dehnbar er ist. Ich bin überzeugt, dass wir mit diesem Ansatz alle bessere Näherinnen werden.
Erinnern Sie sich an Ihre ersten Enttäuschungen mit Stoffen? Vielleicht an ein Kleid, das nicht so geworden ist wie geplant, weil der Stoff zu rutschig oder dehnbar war? Oder vielleicht an einen Stoff, der sich als Lebensretter herausgestellt hat und ein schlecht geschnittenes Design auf elegante Weise gerettet hat? Erzählen Sie mir Ihre Geschichten!